Armenien: raven und fliegen, Krieg und Umplanung

Schon nach wenigen Metern über der Grenze fallen uns Unterschiede zwischen den beiden kleinen Ländern auf. Armenien wirkt noch viel „sowjetischer“ als Georgien. Die Strassen sind voll von alten Ladas – die Leute fahren dadurch viel gemütlicher wir im Nachbarstaat im Norden (wie sehr ich doch den Verkehr in Georgien nicht vermisse haha), viele Gebäude stehen leer, überall gibt es Kaffee…

Rave in alter Konzerthalle

Beinahe jedes Dorf hat alte, verfallende Gebäude. Manche davon sind Sanatorien von früher. Diese Bauwerke werden normalerweise kaum mehr genutzt. Es gibt jedoch eine Gruppe von jungen Leuten, die sich dem gewidmet hat und anfing Parties darin zu veranstalten. So eine besuchen wir in der Nähe vom Bergdorf Dilijan. Die „Dilijan Composer´s Unit“ besteht aus vielen verschiedenen kleinen Bungalows, die von allen möglichen Musiker:innen der Sowjetunion besucht werden konnten. Dort konnten sie und ihre Familie Urlaub machen, entspannen und komponieren. Noch in den 80er Jahren wurde eine grosse Konzerthalle erbaut. Sie steht heute noch, ist in ziemlich gutem Zustand und Ende September soll hier ein riesiges, experimentelles Musikfestival (Urkavan) stattfinden (wird es allerdings nicht, der Krieg kommt dazwischen).

Wir machen uns bereit für unseren ersten Rave seit langem. Obwohl auch allerlei anderes, experimentelles an Musik geboten wird. Es tauchen vielleicht 100 Leute auf, vielleicht sind es auch mehr, die Beleuchtung ist düster und das Gelände riesig. Wir tanzen durch das sowjetische Gebäude, gruseln uns vor den Toiletten, trinken billiges Bier, bewundern all die gestylten Menschen und gehen viel zu früh schlafen, weil wir am nächsten Tag zum Fliegen verabredet sind. Kurz nach dem Frühstück schauen wir uns allerdings alles nochmal bei Licht an. Einige, wenige Menschen tanzen immer noch, der letzte DJ gibt alles.

Gleitschirmfliegen in Armenien: Aparan

Wir treffen Tigran und Harutyun vom AeroClub Armenia in der Nähe von Aparan, wo sie uns mitnehmen zum Startplatz. Unser Büssli schafft die Holperpiste nicht und die beiden Geländewagen vom AeroClub sind voll, also klammern wir uns einfach von aussen ans Dach und hoffen nicht herunterzufallen. Luca zückt sein Handy um die abenteuerliche Fahrt zu filmen. Ein paar hundert Meter später merkt er, dass ihm dabei unser Autoschlüssel aus dem Hosensack fiel. Zum Glück nur kurze Panik, denn er findet ihn schnell wieder. Unser Sonntagskind. Die Aussicht ist spektakulär, aber ziemlich braun – typischer Spätsommer hier. Die Flüge sind angenehm und wir soaren ein bisschen, manchmal finden wir auch Thermik. Bei der Landung werden wir von den jubelnden Dorfkindern empfangen. Übernachten können wir direkt auf dem Landeplatz – wir sind die Einzigen hier.

Tigran ist der einzige Acropilot in ganz Armenien, und sicher auch der jüngste Tandempilot im Land. Am nächsten Tag kommen sie wieder mit neuen Tandemkund:innen. Auch eine Schweizer Reisegruppe trifft ein – sie sind eine Woche hier zum Fliegen. Wir trinken Kaffee und tauschen uns ein bisschen aus. Am Landeplatz teilen alle miteinander ihr mitgebrachtes Essen und Hagop – ein 20-jähriger Pilot mit syrischem Pass – erzählt uns, warum er weder den armenischen Pass beantragen kann (verpflichtender Militärdienst), noch mit dem syrischen reisen kann. Er steckt zwischen bürokratischen Entscheidungen fest und vertreibt sich seine Zeit mit dem Motorrad und dem Fliegen.

Aragats und Yerewan – ein Zwischenstopp

Eigentlich wollten wir über dem riesige Sewan-See fliegen – wofür anscheinend seit vielen Wochen perfekte Bedingungen herrschten. Nur natürlich im Moment gerade nicht mehr. Der Wind kommt für die nächsten paar Tage aus der falschen Richtung. Also nutzen wir die „gewonnene“ Zeit und fahren nach Yerewan um unsere Iran Visa zu holen, aber erst noch auf den Aragats.

Der Vulkan Aragats hat insgesamt vier Gipfel, der höchste liegt über 4000m. Wir können bis über 3000m hoch fahren und parken bei der „Cosmic Ray Research Station“, einer meteorologischen Station, die anscheinend immer noch in Betrieb ist, auch wenn es kaum danach aussieht. Weiter hinten auf dem Gelände verfallen zumindest wiedermal einige Gebäude. Es wirkt alles ziemlich gruselig und verlassen, aber spannend genug, um sich das näher anzusehen.

Ausserdem lernen wir eine sechsköpfige Autostopp-Gruppe aus Tschechien kennen. Ein Teil von ihnen will per Anhalter bis in den Iran, der andere in den Irak (wer Tschechisch lesen kann, kann über sie hier mehr erfahren: https://www.stopujemevychod.cz/). Wir packen alle sechs am nächsten Morgen in unseren Bus und fahren gemeinsam nach Yerewan. Dankbar sind wir nicht nur über ihre Lieder, sondern auch über die Strecke, die nur abwärts verläuft… so schwer beladen wäre jede andere Richtung schlicht und einfach nicht möglich gewesen. Vor der Stadt besuchen wir noch eine andere, alte, verlassene, wissenschaftliche Station – oder versuchen es zumindest. Hier soll nächste Woche ein Festival stattfinden, deshalb kommen wir nicht auf das Hauptgelände. Mit der Drohne sehen wir trotzdem etwas davon.

In Yerewan verabschieden wir uns von der lustigen Gruppe und widmen uns einem unlustigen Thema: dem Genozid Museum. Ein Teil Geschichte, der von der Türkei ja immer noch nicht anerkannt wird. Sehr empfehlenswerter Besuch. Aber auch die Stadt an sich ist empfehlenswert. Fast alles ist zu Fuss zu erreichen, wir brauchen das Auto nur, um auf der iranischen Botschaft das Visa zu holen (absolut kein Problem). Es gibt vegane Restaurants, viel Kunst, viel politische Korruption, die sich an unfertigen Gebäuden sehen lässt. Auch hier schwankt alles zwischen sowjetischer Monumentalität und „hippem“ Westen. Irgendwie zerrissen und unklar und unfertig, aber in Erinnerung bleibend…

Fliegen am Sewan See und Krieg

Wir halten uns noch ein paar Tage am Ufer des Sewan Sees auf, treffen Fahrradfahrer:innen aus europäischen Ländern auf dem Weg in den Osten, entspannen, schreiben, schneiden Videos und warten. Und dann endlich können wir fliegen! Auf unserem Weg zum Landeplatz lernen wir Deniz und Polina mit ihrem Hund Grom aus Russland kennen und sogar Oto kommt mit seinem Freund aus Georgien an, um mit uns zu fliegen. Seit dem Unfall in Gudauri im Juli 2022 ist dort Gleitschirmfliegen immer noch untersagt. Wir sind also eine ziemlich grosse Gruppe und motivieren uns gegenseitig. Das Wetter ist super angenehm und alle können sich relativ lange in der Luft halten.

Nach der Landung geht es zum Wishup Shore am Rande des Seewan Sees, für ein Landebier, ein paar Geschichten und der Verabredung einmal gemeinsam einen mehrtägigen AusFlug zu machen, vielleicht ja am nächsten Wochenende. Gut gelaunt verabschieden wir uns – mit dem Plan einmal um den See zu fahren und uns dann in ein paar Tagen wieder zu treffen. Doch das ist am 12. September und am 13. September 2023 wachen wir zu den Nachrichten auf, dass 10km von unserem Schlafplatz entfernt Bomben fielen.

Wie geht man mit sowas jetzt um? Permanentes Nachrichtenlesen? Eh klar. Alle Freund:innen kontaktieren, die mehr wissen könnten? Sowieso. Bleiben? Keine Ahnung. Da sterben ein paar Steinwürfe von uns entfernt Soldat:innen, in einem Gebiet, das wir durchkreuzen wollen, um in den Iran zu gelangen. Klingt jetzt erstmals alles richtig scheisse. Wir kehren um, fahren zurück Richtung Yerewan und landen auf dem „3G“ Campingplatz. Wir und gefühlt alle anderen Europäer:innen, die noch im Land unterwegs sind. Auch Deniz und Polina tauchen hier wieder auf. Wir nutzen die Zeit um uns zu informieren, mit Reisenden in Kontakt zu sein, die im Süden des Landes unterwegs sind, und unsere Standheizung zu reparieren – seit dem Ausflug auf den Aragats (3000 m.ü.M.) läuft die nämlich nicht mehr.

Umdrehen?

Irgendwann steht fest: Durch den Süden zu fahren wollen wir uns nicht antun. Zu unsicher, zu naiv, zu gefährlich erscheint uns die Situation. Stattdessen fahren wir zurück in den Norden. Mit den zwei Russ:innen laufen wir durch Gjumri, treffen Freunde von ihnen und lernen die Geschichte der Stadt besser kennen. Bei der Verabschiedung erzählen sie uns davon, dass sie planen zurück nach Russland zu kehren. Wie wir später erfahren, kommen sie da aber nicht an, denn kurz bevor sie die Grenze von Georgien nach Russland passieren wollen, rief Putin dazu auf die Militärdienstpflicht zu verschärfen. Also bleiben sie kurzerhand zurück, Polina gibt ihren Job auf und sie mieten ein grosses Haus, um andere Flüchtlinge aus Russland aufzunehmen.

Wir fahren in den Apri Nationalpark um für ein paar Tage noch die späten Sommerstrahlen zu geniessen. Danach machen wir uns auf den Weg in die Osttürkei. Wegen dem langjährigen Konflikt sind jedoch die Grenzen zwischen den zwei Ländern zu, also müssen auch wir erst zurück nach Georgien, um dann wieder in die Türkei einreisen zu können. Wir haben noch etwa 3 Wochen Türkei-Visa, bevor wir entscheiden müssen, wohin es weiter geht. Denn zur gleichen Zeit, als der Krieg zwischen Armenien und Azerbaijan ausbricht, stirbt auch Mahsa Amini in Teheran – ein Tod dessen Auswirkungen auf den Iran zu diesem Zeitpunkt unvorstellbar waren.

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