Auf der Künstler:innen-Farm

Türkiye’ye hoşgeldiniz

Das erste Problem nach unserer Grenzüberquerung, dem wir uns stellen müssen: die Gasflaschen hier sind anders. Und die, die wir noch in Marokko gekauft hatten funktionieren gar nicht. Nicht gerade ideal… Wir fahren über die Halbinsel Gelibolu in den Süden und stellen unseren Van bei einem Restaurant ab. Es heisst Boomerang – für viele Reisende ist es anscheinend der erste und der letzte Stop durch die Türkei.

Dort macht sich Luca dann auf den Weg unser Gas zu füllen – erfolgreich! Statt 2kg haben wir jetzt eine 11kg Flasche installiert, mit einigen schwindligen Dichtungen. Aber es hält und wir können die nächsten Monate unbekümmert kochen. Ausserdem lässt er zerrissene Kleidung bei einer Näherin reparieren und unseren Omnia-ofen, über den wir vor ein paar Tagen drüber gefahren sind – von einem Schmied wieder gerade biegen. Während wir noch voll begeistert das Metall bewundern steuert ein alter Mann mit Matrosenmütze auf uns zu. Er spricht Deutsch – sogar Schweizerdeutsch – und hat die allergrösste Freude an unserem Kennzeichen, denn er hat von den 70ern bis in die 90er in Altstätten gearbeitet. Heute ist er zurück in der Türkei, führt drei Hotels und lädt uns auf ein Bier ein.

Weil wir die Workaway-Erfahrungen in Marokko in so guter Erinnerung haben, haben wir uns auch hier entschlossen, die Türkei erst so kennen zu lernen. Wir haben verschiedenen Hosts geschrieben, und bekommen sehr schnell eine Antwort von Mustafa. Unser nächstes Ziel für die weiteren Tage liegt nun in der Nähe von Ezine.

Sarpdere Atölye

Am 10. Mai 2022, genau 6 Monate nach dem Antritt unserer Reise kommen wir (nach nur einmal Verfahren!) bei Mustafa und Filiz in ihrem Zuhause an. Shahrzad – eine iranische Workawayerin, die seit ein paar Jahren in Istanbul wohnt – ist ebenfalls hier. Durch sie bekommen wir einen ersten Einblick in den Iran, und warum sie nie wieder zurückkehren möchte. Es fühlt sich seltsam an, in ein Land reisen zu wollen, aus dem andere fliehen.

Es ist nicht das erste Mal, auch in Marokko zeigte sich dieses Bewusstsein immer wieder, wurden die eigenen Privilegien immer wieder deutlich. Wie einfach es doch für uns ist Landesgrenzen zu überschreiten, uns frei zu bewegen, wie selbstverständlich das alles scheint, wie wir es schon fast als Frechheit betrachten, wenn wir einen Visaantrag stellen müssen – der uns mit aller Wahrscheinlichkeit problemlos gestattet wird. Einfach nur, weil wir auf der Seite einer roten Linie geboren wurden, die das ermöglicht. Es gibt uns immer wieder zu denken.

Doch zurück zu unserem Aufenthalt. Unsere Gastgeber sind beide über 60 und lernten sich vor 40 Jahren in Istanbul an der Uni kennen. Damals hatten sie Architektur studiert und viele Jahre in Büros verbracht. Mit 50 entschieden sie sich ihr Leben zu verändern. Dazu kauften sie sich in den Bergen ein Stück Land. Sie bauten ihr Haus von Grund auf selbst auf. Stück für Stück wuchs es und besteht u.a. aus zwei Küchen und einer ganzen, liebevoll geordneten und beschrifteten Bibliothek. Die meiste Zeit verbringen wir allerdings draussen auf der Terrasse, mit Blick auf den Garten. Neben den Fröschen im Teich hört man weiter hinten die Hühner gackern und die Grillen zirpen im hohen Gras. Ausserdem gehört ein Nebengebäude dazu, welches vor allem Mustafa nutzt, um mit Holz zu arbeiten und seinem ganzen, künstlerischen Dasein Raum zu geben.

Kunst, Küche und Kultur

Die ersten Aufgaben sind auch hier wie immer: Gras schneiden, jäten, Raupenplage entfernen… einfach allgemeine Gartenarbeit. Wir arbeiten morgens und am Abend. Die Sonne lässt andere Arbeitszeiten nicht zu. Mit Filiz lernen wir wirklich alles zu verwenden. Wenn es irgendwie möglich ist, stellt sie alles selbst her, egal ob Tee, Brot, Marmeladen, oder allerlei Aufstriche. Selbst Käse und Joghurt fertigt sie aus der Schafsmilch von den Nachbarn an. Als Luca einen „Schweizer Sonntagszopf“ backen will, können wir diese besuchen und er kann dabei die benötigte Milch von den Kühen melken. Es ist eine kleine Farm mit wenigen Kühen, aber auch hier ist die Industrie hinter Tierprodukten nicht zu übersehen.

Ich mache jetzt keinen veganen Post. Es kann sich jeder selber informieren. Ich möchte nur erwähnen, dass die ländliche Romantik auch in abgelegenen Gebieten einfach nicht der Wahrheit entspricht…

Mustafa ist ein Künstler und ein Philosoph, war es eigentlich immer schon. Das wird in jedem Raum sichtbar. Neben der unglaublich gefüllten Bibliothek, in der auch seine eigenen Gedichtbände stehen, hängen seine Bilder. Überall finden wir Holzkunstwerke – seien dies nun Löffel und Schalen in der Küche, oder Vasen, Skulpturen und die Bilderrahmen seiner Kunstwerke. Filiz ist eine Künstlerin der Küche, der Empathie und des Glases. Sie hat in den letzten Jahren gelernt mit Glas Kunstwerke herzustellen und zeigt uns gerne wie es geht.

Unser türkisches Zuhause

Bei den beiden zu „arbeiten“ fühlt sich viel mehr so an, als wären wir in einer weiteren Familie aufgenommen worden. Wir helfen uns gegenseitig, bereiten alle Mahlzeiten gemeinsam zu und trinken sehr viel Tee. Trotz Sprachbarrieren verstehen wir uns und schaffen es auch kompliziertere Themen zu besprechen. So erfahren wir auch, dass Mustafa plant, ein „Artists in Residence“ aus seinem Zuhause zu machen. Natürlich möchten wir das unterstützen.

Doch wie? Kann das jemand erraten? Eh klar – ein Werbevideo wird gedreht. Nach 3 Tagen filmen, schneiden und Interviewdiskussionen steht das endgültige Video.

Insgesamt verbringen wir fast 2 Wochen bei ihnen. Wir lernen die ganze Nachbarschaft kennen (ok, es sind nur noch 3 andere Familien im ganzen Dorf). Sie nehmen uns mit auf Ausflüge: nach Canakkale die Stadt erkunden, ans Meer, auf einen Bazar. In der Holzwerkstatt schnitzen auch wir unsere eigenen Holzlöffel, in der Küche lernen wir, wie man Käse selber macht und aus dem Garten holen wir jeden Abend frischen Salat. Nachts lernen wir ein wenig Türkisch, vor allem Wörter, die das Essen beschreiben… und Zahlen.

Als wir uns wieder auf den Weg machen, fühlen wir uns bereit für den Rest der Türkei. Noch sind wir ja im Westen, der sehr europäisch ist. Wir sind gespannt darauf, wie divers dieses Land wirklich ist. Es wurde uns so viel erzählt und wir haben so viel in den letzten Tagen gelernt, dass es Zeit wird, unsere eigenen Erfahrungen zu machen.

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